2.1 Die Prä-Coming-out-Phase
Diese Phase umfasst die Zeit von der Geburt bis zu dem Moment,
in dem ein Mädchen oder ein Knabe sein Anders-Sein
bewusst wahrnimmt. Dieses Gefühl, anders als
die anderen Kinder zu sein, beruht auf einer spezifischen Entwicklung
der Geschlechtsidentität, die sich, abgesehen von gewissen
hereditären Komponenten, aus drei Bausteinen
zusammensetzt: der Kern-Geschlechtsidentität, der Geschlechtsrolle,
und der Geschlechtspartner-Orientierung (vgl. Kap. 1.4). Diese
drei Bausteine bilden im Verlauf der Entwicklung zusammen
mit den erotischen und sexuellen Phantasien, den sozialen Präferenzen
und nicht zuletzt mit der Selbstdefinition (s. Klein et al. 1985)
die ganz individuelle, komplexe Struktur, die wir in vereinfachender
Weise sexuelle Orientierung nennen.
Das Gefühl des Anders-Seins kann je nach dem
Verhalten der Umgebung (in erster Linie natürlich der nächsten
Bezugspersonen, der Eltern) unterschiedlich erlebt werden. Dementsprechend
finden wir auch ganz verschiedenartige Ausgänge der Prä-Coming-out-Phase,
was wiederum einen erheblichen Einfluß darauf ausübt,
wie die folgenden Entwicklungsstadien durchlaufen werden.
Verständlicherweise können Eltern, die selbst gut mit
ihren Bedürfnissen nach Abgrenzung und Zuwendung zu anderen
Menschen umgehen und eine gewisse Offenheit für unkonventionelle
geschlechtsspezifische Verhaltensweisen besitzen, viel unbefangener
mit dem Anders-Sein ihrer Kinder umgehen und den Kindern
dadurch viel mehr Raum lassen, sich selbst so zu erleben und auch
sozial so zu definieren, wie sie sich tatsächlich fühlen
(vgl. die Resultate der Studie von Waldner & Magruder 1999).
Sind Eltern und andere wichtige Bezugspersonen hingegen an starre,
traditionelle Geschlechtsrollen-Stereotype und rigide gesellschaftliche
Normen gebunden, so entwickeln die Kinder und Jugendlichen leicht
das Gefühl der Heimatlosigkeit und der Fremdheit (Wiesendanger
2001).
Die Schwierigkeit des Prä-Coming-out liegt vor allem darin,
dass die Heranwachsenden ebenso wie die nähere Umgebung erkennen
und akzeptieren müssen, dass nicht die wie selbstverständlich
erwartete heterosexuelle Orientierung besteht, sondern dass eine
lesbische, schwule oder bisexuelle Identität die Selbstwahrnehmung
und die Gestaltung der sozialen Beziehungen bestimmt. Es geht
in dieser Phase darum anzuerkennen, dass Verhaltens- und Erlebensweisen,
die üblicherweise typisch männlich und typisch
weiblich genannt werden, für diese Kinder keine oder
eine nur begrenzte Gültigkeit besitzen. Die Tatsache, dass
Knaben häufig nicht die weithin von ihnen erwartete Freude
an körperlichen Auseinandersetzungen und sportlichen Wettkämpfen
zeigen, sondern musische Interessen aufweisen, und Mädchen
sich nicht dem versorgenden Rollenspiel z. B. mit Puppen hingeben,
sondern die dynamische Interaktion mit der Außenwelt suchen,
wird bei einer positiven Eltern-Kind-Beziehung nicht als Fehlen
eines sozial wichtigen Merkmals oder gar als Versagen
in der geschlechtsspezifischen Sozialisation empfunden (mit den
entsprechenden Schuldgefühlen bei Eltern und Kind), sondern
als ein gleichwertiges Anders-Sein.
Da unsere Gesellschaft sich stark an heterosexuellen Standards
orientiert, ist ein solcher Entwicklungsprozess mehr oder weniger
großen Belastungen ausgesetzt. Schon die - verständliche
- Erwartung heterosexueller Eltern, ein heterosexuelles Kind vor
sich zu haben, kann im Heranwachsenden schmerzliche Gefühle
des Nicht-verstanden-Werdens und des Ausgeschlossen-Seins entstehen
lassen. Hinzu kommen oft Enttäuschungen am gleichgeschlechtlichen
Elternteil, der auf die homoerotischen Bedürfnisse des Kindes
nicht angemessen eingeht und das Kind wegen seines nicht den traditionellen
Geschlechtsrollen entsprechenden Verhaltens unter Umständen
explizit zurückweist und entwertet (Gissrau 1993b; Isay 1990;
vgl. auch Kap. 1.4).
Je stärker ausgeprägte homophobe (antihomosexuelle)
Einstellungen bei den Eltern und im umgebenden Milieu bestehen,
desto schwerer sind die Verletzungen, die Kinder und Jugendliche
in der Entwicklungsphase des Prä-Coming-out erleiden. Besonders
tragisch ist es, wenn solche homophoben Einstellungen der Umwelt
schließlich von den Heranwachsenden übernommen werden
und dann als internalisierte Homophohie aus ihnen selbst heraus
eine unheilvolle negative Wirkung auf das Selbstwertgefühl
und die Selbstakzeptanz entfalten (zum Phänomen der Homophobie
s. Kap. 3).
Schwierigkeiten ergeben sich ferner dadurch, dass Kinder und Jugendliche
in unserer Gesellschaft kaum gleichgeschlechtliche Modelle finden,
sondern in erster Linie mit heterosexuell empfindenden Menschen
und deren Lebens- und Beziehungsformen konfrontiert sind. Diese
Situation hat sich zwar im Verlauf der letzten Jahre geändert.
Nach wie vor aber erleben viele gleichgeschlechtlich empfindende
Kinder und Jugendliche im Hinblick auf die für ihre Sozialisation
wichtigen Identifikationsfiguren einen empfindlichen Mangel. Allenfalls
erfahren sie von lesbischen, schwulen und bisexuellen Prominenten,
die sie aber nur aus der Ferne kennen und die deshalb als ihnen
vorgelebte Modelle kaum in Frage kommen. Diese Probleme werden
besonders relevant in den folgenden Coming-out-Phasen, in denen
es um das Eingehen von Beziehungen und das Finden eines eigenen
lesbischen, schwulen und bisexuellen Lebensstils geht.
Damit diese wie die nächsten Entwicklungsphasen von Eltern
wie von Kindern konstruktiv bewältigt werden können,
sind mitunter Beratungen durch Professionelle sinnvoll (s. Kap.
10.2). Daneben können aber auch Selbsthilfegruppen für
Eltern lesbischer und schwuler Kinder äußerst hilfreich
sein. In solchen Gruppen erleben die Eltern Solidarität,
erhalten Informationen über homosexuelle Orientierungen und
Lebensweisen und können ihren eigenen Coming-out-Prozess
als Eltern eines homosexuellen Kindes durchlaufen. Denn, ähnlich
wie ihre Kinder, stehen auch sie vor der Aufgabe, die homosexuelle
Orientierung zu akzeptieren und mit dem sich anders
entwickelnden Kind in der Öffentlichkeit sichtbar zu werden
(vgl. Kap. 10.2).
2.2 Das eigentliche Coming-out
Diese Phase zeichnet sich durch die Gewissheit aus, eine lesbische,
schwule oder bisexuelle und damit keine heterosexuelle Orientierung
zu besitzen und sich dementsprechend zu Partnerinnen und Partnern
des eigenen Geschlechts hingezogen zu fühlen. Diese Erkenntnis
stellt den ersten Schritt auf dem Weg in die Öffentlichkeit
dar Auch wenn die eigene Orientierung inzwischen zur Gewissheit
geworden ist, bestehen doch nach wie vor Gefühle von Ungewissheit,
Zweifel und Unsicherheit. Zentrale Fragen, die lesbische, schwule
und bisexuelle junge Menschen in dieser Zeit bewegen, sind vor
allem die, wem sie sich zuerst eröffnen sollen und wie weit
der Kreis der Menschen gezogen werden soll, die sie über
ihre Orientierung informieren wollen.
Die Antwort auf diese Fragen hängt von verschiedenen Faktoren
ab: In erster Linie wird sie durch die Erfahrungen der früheren
Entwicklung bestimmt, insbesondere durch die Offenheit der Eltern
auch für Verhaltensweisen, die von der sozialen Norm abweichen.
Von ausschlaggebender Bedeutung ist dabei natürlich auch
die Art der Eltern-Kind-Beziehung, vor allem der Grad des zwischen
ihnen bestehenden Vertrauens. Das konkrete Verhalten angesichts
der Frage, wem die jungen Menschen sich eröffnen, hängt
zum anderen aber auch von ihrem aktuellen Umfeld ab. Sie befinden
sich verständlicherweise in einer völlig anderen Situation,
je nachdem ob ihr Bezugsfeld im beruflichen wie im privaten Bereich
sich durch relativ große Toleranz auszeichnet oder ob sie
sich vornehmlich in einem konservativen, stark auf sozialkonformes
Verhalten ausgerichteten Milieu bewegen.
In letzterer Hinsicht spielen die Kirchen, zumindest in ihren
offiziellen Verlautbarungen, oft eine unheilvolle, die positive
Identitätsbildung gleichgeschlechtlich empfindender Menschen
beeinträchtigende Rolle (Käufl 2000). Während die
katholische Kirche durchweg eine die Homosexualität ablehnende,
entwertende Haltung einnimmt, ist die Situation im protestantischen
Bereich heterogener. Hier bestehen inzwischen an etlichen Orten
beispielsweise Rituale für Segnungsfeiern gleichgeschlechtlicher
Paare. Eindeutig homosexualitätsfeindlich sind hier jedoch
evangelikale Gruppierungen, die ihre gleichgeschlechtlich empfindenden
Mitglieder unter einen enormen Druck setzen und von ihnen die
Änderung ihrer sexuellen Orientierung und Lebensweise fordern.
In Anbetracht der in Kapitel 1.4 geschilderten Entwicklung der
homosexuellen und bisexuellen Geschlechtidentität ist klar,
dass eine Änderung der eigentlichen Orientierung mit den
daran geknüpften erotischen und sexuellen Phantasien und
Gefühlen nicht möglich ist, sondern lediglich Verhaltensänderungen
bewirkt werden können. Diese werden allerdings mit zum Teil
schweren Depressionen, massiven Selbstwertproblemen und tiefer
Verzweiflung erkauft. Mitunter führt die unerträgliche
Spannung, die aus der Wahrnehmung resultiert, ein Leben im Gegensatz
zur eigentlichen Identität zu führen, bis in den Suizid.
Der erste wichtige Schritt in der Phase des eigentlichen Coming-out
ist das Gespräch über die eigene gleichgeschlechtliche
Orientierung mit einer den Jugendlichen nahestehenden Person ihres
Vertrauens. Solche Personen sind häufig Kameradinnen oder
Kameraden. Es können aber auch Verwandte, Lehrerinnen und
Lehrer oder Jugendleiterinnen und Jugendleiter sein, oder es kommt
direkt zum Gespräch mit den Eltern. In jedem Fall ist es
wichtig, dass die Heranwachsenden auf einen Menschen treffen,
der ihnen offen begegnet und sie vorbehaltlos akzeptiert. Gerade
bei diesen ersten, zaghaften Schritten sind die Jugendlichen besonders
verletzbar, und es kann die weitere positive Entwicklung erheblich
blockieren, wenn sie bei einem solchen Gespräch Ablehnung
und Entwertung erfahren.
Es wäre allerdings ein Irrtum anzunehmen, daß gleichgeschlechtlich
empfindende Menschen sich nur im Jugendalter und in dieser Phase
ihres Coming-out mit der Frage konfrontiert sähen, was sie
in welcher Situation wem anvertrauen wollen. Selbstverständlich
kommt solchen Erwägungen zu Beginn des Coming-out besondere
Bedeutung zu. Letztlich sind es aber Fragen, die Lesben, Schwule
und Bisexuelle zeitlebens begleiten. Auch wenn im Verlauf der
Zeit mehr oder weniger automatisierte Reflexionen entstanden sind,
muss die Entscheidung darüber, wem wann was zu sagen ist,
auch von völlig offen lebenden Lesben und Schwulen
stets von neuem getroffen werden. Dies bringt trotz aller dabei
entwickelten Routine einerseits eine gewisse Belastung
mit sich. Andererseits kann man diese Situation aber durchaus
auch als konstruktive Herausforderung sehen und sie mit Edmund
White (1996a) als Ausgangspunkt einer geradezu philosophischen
Grundhaltung gleichgeschlechtlich empfindender Menschen verstehen:
sind Lesben und Schwule doch durch die Wahrnehmung ihres Anders-Seins
von Kindheit an gezwungen, ihre innerpsychische Situation und
ihre Existenz in der von heterosexuellen Standards bestimmten
Welt zu reflektieren, um ihr Leben in dieser - zum Teil schwierigen
- Umwelt konstruktiv gestalten zu können.
Bei den Schritten in die Öffentlichkeit sind Coming-out-Gruppcn
und die diversen Emanzipations- und Freizeitangebote für
Homosexuelle für viele gleichgeschlechtlich empfindende Heranwachsende
eine große Hilfe. Hier finden sie andere Lesben, Schwule
und Bisexuelle, die den gleichen Weg gehen wie sie, und treffen
auf Menschen, die für sie direkt erlebbare Modelle für
gleichgeschlechtliche Lebensweisen sein können. Da die Entwicklung
der Identität immer das Resultat eines intensiven Austauschprozesses
zwischen den inneren Bildern und Gefühlen einerseits und
den realen sozialen Erfahrungen andererseits ist, kommt diesen
Erfahrungen aus dem Umgang mit anderen gleichgeschlechtlich empfindenden
Frauen und Männern eine große Bedeutung zu.
Die zum Teil intensive Teilnahme an solchen lesbisch-schwul-bisexuellen
Gruppen wird indes mitunter von der heterosexuellen Umgebung als
Ghettobildung missverstanden und kritisiert. Beraterinnen
und Therapeuten müssen sich jedoch darüber klar sein,
dass es nicht darum geht, dass die gleichgeschlechtlich empfindenden
Menschen sich von der sozialen Realität abkoppeln
und sich nur noch im Milieu (wie es nicht selten abwertend
formuliert wird) bewegen, sondern dass die Teilnahme an lesbisch-schwul-bisexuellen
Gruppierungen ein wichtiges Element im Prozess der Ausbildung
einer positiven gleichgeschlechtlichen Identität ist. (Zu
den sozialpsychologischen Aspekten der Entwicklung eines individuellen
und kollektiven Selbst im Coming-out-Prozess s. Simon 1995.) Dies
wird spätestens dann plausibel, wenn man bedenkt, dass heterosexuelle
Menschen sich permanent in einer Umgebung bewegen, die ihrer eigenen
sexuellen Orientierung entspricht, und sie sich auf diese Weise
dauernd in ihrer Identität bestätigt sehen und diese
sich dadurch immer mehr festigt. Gleichgeschlechtlich empfindenden
Menschen hingegen fehlt diese Erfahrung, und sie sind deshalb
darauf angewiesen, sich Bezugsgruppen zu schaffen respektive zu
suchen, die ihnen dieses für ihre Identitätsentwicklung
zentrale Erleben vermitteln.
Die Aufgaben, vor die sich gleichgeschlechtlich empfindende Heranwachsende
gestellt sehen, gleichen im Grund den Aufgaben, die auch heterosexuelle
Menschen ihres Alters zu bewältigen haben: Es geht um die
Festigung und Differenzierung der Selbstbilder, um die Ablösung
von der Herkunftsfamilie mit den sie begleitenden innerpsychischen
Umstrukturierungen, um den Aufbau eines eigenen Freundes- und
Bekanntenkreises, um das Eingehen erster sexueller Beziehungen
sowie um Entscheidungen hinsichtlich der späteren beruflichen
Tätigkeit und um die damit zusammenhängenden Lebensentwürfe.
Ziel der Entwicklung ist es, eine Autonomie zu erlangen, zu der
u.a. die Fähigkeit gehört, in Beziehungen Nähe
und Distanz in einem beide Partner befriedigenden Maße zu
regulieren, Hingabe und Selbstbewahrung in einem ausgewogenen
Gleichgewicht zu halten und in der Beziehung zu reifen.
Was das Eingehen sexueller Beziehungen betrifft, ist diesen Kontakten
angesichts der Gefahr einer HIV-Infektion - in gleich- wie in
gegengeschlechtlichen Beziehungen - viel an Unbekümmertheit,
an im besten Sinne spielerischer Leichtigkeit und Freiheit genommen
worden. Sich sorglos zu verhalten stellt heute eine Fahrlässigkeit
dar; Unbekümmertheit kann eine tödliche Gefahr für
die eigene Person und für den jetzigen wie für den späteren
Partner bedeuten. Deshalb kann es kein unbeschwertes Eingehen
sexueller Beziehungen mehr geben. Es können nicht mehr die
verschiedenen Formen der körperlichen Begegnung im Sinne
eines Erkundens und Erlebens der eigenen Sexualität und der
des Partners bedenkenlos praktiziert werden. Stets müssen
das eigene Handeln und das Verhalten des Partners kritisch reflektiert
und auf etwaige Gefahren hin geprüft werden (zum Thema Aids
s. auch Kap. 19).
Trotz etlicher Gemeinsamkeiten mit heterosexuellen Heranwachsenden
befinden sich Lesben, Schwule und Bisexuelle in einer besonderen
Lage, da ihre innere Orientierung und das daraus resultierende
Verhalten nicht mit den Normen und Verhaltensmaximen übereinstimmen,
die von der Majorität gelebt und propagiert werden. Sie können
sich deshalb, wie erwähnt, gerade in der Phase des eigentlichen
Coming-out nicht in dem Maße wie heterosexuelle Heranwachsende
an Vorbildern orientieren, die sie täglich um sich herum
erleben. Insbesondere müssen sie sich bewusst und kritisch
mit den negativen Bildern auseinandersetzen, die nach wie vor
in der Öffentlichkeit über Menschen mit homosexuellen
und bisexuellen Orientierungen bestehen, und müssen realistische
Vorstellungen von einer lesbischen und schwulen Lebensgestaltung
entwickeln.
Im Hinblick auf die negativen Klischeebilder geht es beispielsweise
um die Auseinandersetzung mit der entwertenden und in keiner Weise
der Realität entsprechenden Vorstellung von einer weiblichen
Identifizierung der Schwulen respektive einer männlichen
Identifizierung der Lesben (vgl. Rauchfleisch 2001a). Vor allem
die im pädagogischen Bereich Tätigen sehen sich dem
belastenden Vorurteil gegenüber, gleichgeschlechtlich empfindende
Menschen stellten eine Verführungsgefahr für
Kinder und Jugendliche dar (zur Differenzierung zwischen Pädo-
und Homosexualität s. Kap. 1.4); schließlich geht es
um das bereits erwähnte oft fehlende Verständnis der
Umgebung für das Bedürfnis von Lesben, Schwulen und
Bisexuellen, in den verschiedenen homosexuellen und bisexuellen
Gruppierungen Kontakt zu anderen gleichgeschlechtlich empfindenden
Menschen zu suchen.
Bisexuelle Heranwachsende und Erwachsene befinden sich in der
Phase des eigentlichen Coming-out in einer nochmals speziellen
Situation: Einerseits sind sie besonders irritiert, weil sie sich
sowohl zu gleich- wie zu gegengeschlechtlichen Partnerinnen und
Partnern hingezogen fühlen und sich unter Umständen
- heute aber seltener als früher - mit Misstrauen und kritischer
Distanz von seiten ihrer heterosexuellen wie der lesbisch-schwulen
Bezugspersonen konfrontiert sehen. Andererseits empfinden sie
jedoch in dieser Entwicklungsphase ihre Andersartigkeit
weniger einschneidend als Lesben und Schwule, da sie aufgrund
der ihre Entwicklung stark prägenden heterosexuellen Umgebung
im allgemeinen das heterosexuelle Begehren zunächst stärker
erleben und sich dementsprechend in dieser Phase vermehrt gegengeschlechtlichen
Partnerinnen und Partnern zuwenden. Erst im Verlauf der weiteren
Entwicklung tritt dann das gleichgeschlechtliche Begehren deutlicher
hervor und zwingt die Betreffenden, sich auch mit dieser Seite
ihrer Identität auseinanderzusetzen.
Bisher habe ich das eigentliche Coming-out bei Heranwachsenden
beschrieben. Auch wenn heute wohl die Mehrzahl gleichgeschlechtlich
empfindender Menschen diesen Entwicklungsschritt im Jugendalter
tut (gemäß einer Umfrage von Biechele, 2001, unter
Jugendlichen erfolgt das Coming-out heute in der Regel zwischen
dem 14. und 17. Lebensjahr), darf darüber nicht vergessen
werden, dass in der älteren Generation und bei einem Teil
der heute Aufwachsenden das eigentliche Coming-out auch erst im
mittleren, unter Umständen, wenn überhaupt noch, erst
im höheren Alter erfolgen kann. Dies bringt im allgemeinen
etliche Schwierigkeiten mit sich, da ein jahre- bis jahrzehntelanges
Geheimhalten der sexuellen Orientierung die betreffende Frau und
den betreffenden Mann unter einen massiven Druck setzt und die
immer weiter hinausgeschobene Entscheidung, sich zu outen,
die Angst vor den Folgen eines solchen Schrittes enorm wachsen
lässt.
In einer solchen Situation sind neben einer Unterstützung
aus dem privaten Umfeld insbesondere auch Beratungen und therapeutische
Begleitungen durch Professionelle hilfreich (vgl. Kap. 4, 5 und
6). Dabei gilt ganz besonders, dass jedes Drängen in eine
bestimmte Richtung zu vermeiden ist und die Professionellen strikt
das Ziel verfolgen müssen, die Ratsuchenden auf ihrem ganz
individuellen Weg der Identitätsentwicklung und des Findens
eines ihnen entsprechenden Lebens- und Beziehungsstils zu begleiten.
Eine wichtige Aufgabe solcher Begleitungen ist, neben der Förderung
der Identität, die Klärung der sozialen Situation, der
Berufswelt wie des privaten Umfelds und die gemeinsame Suche nach
der Art, in der die sexuelle Orientierung gelebt und, soweit gewünscht
und möglich, sozial verwirklicht werden kann.
2.3 Integrationsphase
Diese Phase zeichnet sich dadurch aus, dass in den Beziehungen
nun körperlich-sexuelle und emotionale Aspekte gleichermaßen
von Bedeutung sind. Lesben, Schwule und Bisexuelle suchen in den
Begegnungen mit Partnerinnen und Partnern nicht mehr nur in erster
Linie die sexuelle Erfüllung. Umgekehrt sind es auch nicht
mehr die Zustände schwärmerischer, die reale Nähe
des geliebten Menschen aber geradezu ängstlich meidender
Verliebtheit. Es kommt in dieser Phase vielmehr zu einer ganzheitlichen,
personalen Beziehung, die körperliche und seelische Aspekte
gleichermaßen umfasst und dadurch, dass die Partnerinnen
bzw. Partner sich nun auch in der Öffentlichkeit als Paar
präsentieren, eine andere soziale Realität erhält
als die früheren, in der Regel nicht nach außen sichtbar
gewordenen Beziehungen.
Es liegt auf der Hand, dass derartige ganzheitliche Beziehungen
eine größere emotionale Intensität erreichen und
wesentlich mehr an Nähe mit sich bringen als frühere
eher flüchtige Kontakte. Soll es zu einer für beide
Partnerinnen bzw. Partner befriedigenden Situation kommen, ist
es notwendig, dass sie aufgrund ihrer in der Vergangenheit gesammelten
Erfahrungen Nähe und Distanz ausbalancieren können und
ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Selbstabgrenzung und
Hingabe finden. In dieser Hinsicht bestehen keine grundlegenden
Unterschiede zwischen heterosexuellen und lesbischen bzw. schwulen
Paaren. Wann immer Menschen in einer engen Verbindung miteinander
leben, sehen sie sich - und zwar stets von neuem der Aufgabe
gegenüber, den Prozess des Zusammenlebens miteinander zu
gestalten, wobei sie ihr Verhalten einerseits auf die lebensgeschichtlichen
und sozialen Umstände und andererseits auf die aktuelle innerpsychische
Situation der Partner abstimmen müssen.
Dazu gehört bei Lesben und Schwulen - ebenso wie bei heterosexuellen
Paaren - auch die Frage nach der Bedeutung der Treue in dieser
Beziehung.
Je nach den für sie verbindlichen Norm- und Wertvorstellungen
der Partner finden wir Paarbeziehungen, für die der Grundsatz
gilt, keine Nebenbeziehungen einzugehen. Auch wenn
solche exklusiven Zweierbeziehungen in dieser Phase des Coming-out
die wohl häufigste Form des Zusammenlebens sind, gibt es
daneben auch andere, weniger verbindliche Beziehungskonstellationen,
in denen die Partner sich gegenseitig größere Freiheiten
lassen.
In über längere Zeit hin stabilen Beziehungen spielen,
wie bei heterosexuellen Paaren, neben der sexuellen Begegnung
zunehmend auch viele andere Erfahrungen eine zentrale Rolle: die
gegenseitige Unterstützung und Fürsorge, das Erleben
von Gemeinschaft und Kameradschaft sowie das Teilen von Freud
und Leid. Das heißt: den gemeinsamen Alltag mit allen seinen
Belastungen miteinander zu meistern; das Zusammenleben mit den
Rechten und Pflichten, die beide Partner dabei übernehmen
müssen, zu organisieren; sich an den kleinen Dingen
des Alltags miteinander zu freuen, aber sich daran unter Umständen
auch zu reiben; zu lernen, miteinander konstruktiv Auseinandersetzungen
zu führen und Kompromisse zu finden; im Interesse der oder
des anderen Rücksichten zu nehmen und Verzichte zu leisten,
aber auch sich selbst zu behaupten, wo dies notwendig ist; Desillusionierungen
bei sich und der oder dem anderen zu bewirken und sich gegenseitig
so zu akzeptieren, wie beide tatsächlich sind. Es ist das
für alle engen Beziehungen gültige Erleben eines intensiven
gegenseitigen Austauschs, an dem beide Beteiligten reifen können.
Aus diesen Erfahrungen erwächst im Verlauf der Zeit ein starkes
Zusammengehörigkeitsgefühl. Die gemeinsame Geschichte
schafft eine tiefe emotionale Verbundenheit, die oft entscheidend
dazu beiträgt, auch krisenhafte Situationen miteinander durchzustehen
und trotz aller Belastungen, die das Zusammenleben mitunter mit
sich bringt, die Beziehung weiterzuführen und daran zu reifen.
Lesbische und schwule Paare sehen sich allerdings neben diesen
für alle Beziehungen geltenden Aufgaben noch einer Reihe
spezieller Probleme gegenüber. Das Hinaustreten als Paar
in eine mehr oder weniger breite Öffentlichkeit stellt für
sie immer auch ein gewisses Risiko dar. Für ihre Eltern und
Geschwister wird mitunter die gleichgeschlechtliche Orientierung
erst dann wirklich konkret, wenn ihnen eine Partnerin respektive
ein Partner vorgestellt wird. Während vorher das Thema Homosexualität
vielleicht relativ gelassen diskutiert werden konnte, erhält
es eine völlig andere Färbung, wenn es als in einer
Beziehung gelebte Realität sichtbar wird.
Dies kann positive wie negative Konsequenzen haben: Nicht selten
wird die Brisanz des Themas deutlich entschärft, wenn eine
Partnerin der Tochter oder ein Partner des Sohnes erscheint, die
bzw. der sich als angenehmer, liebenswerter Mensch präsentiert.
Umgekehrt kann es aber in dieser Phase auch zu massiven Konflikten
kommen, da sich durch das Auftreten einer konkreten Person das
Thema Homosexualität nicht länger totschweigen oder
mit dem Argument Das ist nur so eine Laune, die wieder vergehen
wird beiseite schieben lässt.
Ähnlich ist es im weiteren privaten wie beruflichen Umfeld.
Bei Firmenessen, öffentlichen Anlässen und privaten
Einladungen bedarf es immer wieder der Entscheidung, ob sich die
Lesbe oder der Schwule als Einzelperson ansprechen und einladen
lässt oder ob sie respektive er die gleichgeschlechtliche
Orientierung offenlegt und darauf verweist, in einer Partnerschaft
zu leben. Dies ist insbesondere in kirchlichen Kreisen mitunter
eine höchst konflikthafte Situation, wenn damit gerechnet
werden muss, dass mit dem Bekanntwerden der Homosexualität
eine massive Ausgrenzung des ehemals vielleicht geschätzten,
in etlichen kirchlichen Ämtern tätigen Gemeindeglieds
erfolgen wird (vgl. den autobiographischen Bericht von Manfred
Bruns 1993).
Bei allen solchen schwierigen Situationen ist indes zu berücksichtigen,
dass in der Integrationsphase die innere Sicherheit und die Selbstakzeptanz
in der Regel bereits so weit gefestigt sind, daß diese Probleme
gemeistert werden können. Außerdem wirkt sich das Leben
in einer Paarbeziehung, in der die anfallenden Probleme besprochen
werden können und die Partner miteinander nach Lösungen
suchen, weiter stabilisierend aus. Auf der anderen Seite ist aber
auch zu bedenken, daß die im privaten wie im beruflichen
Umfeld erlebten Konflikte zum Teil erhebliche Belastungen für
die Partnerschaft mit sich bringen. Während heterosexuelle
Paare dadurch, dass sie von juristischer und kirchlicher Seite
Sicherung und Bestätigung erfahren und als Paar und nicht
als Individuen angesprochen werden, in ihrer Paarbeziehung stabilisiert
werden, wirkt sich die Reaktion der Umgebung auf gleichgeschlechtliche
Paare oft ausgesprochen destabilisierend aus.
Gleichgeschlechtliche Paare sind deshalb Belastungen ausgesetzt,
die heterosexuelle Paare in dieser Art und Intensität nicht
erleben. Dennoch zeigen vergleichende Studien an gleich- und gegengeschlechtlichen
Paaren, dass die Zufriedenheit der Partnerinnen und Partner in
lesbischen und schwulen Beziehungen größer ist und
hier im allgemeinen eine egalitäre, wesentlich flexiblere
Rollenverteilung stattfindet als in vielen traditionellen heterosexuellen
Ehen (Krüger-Lebus & Rauchfleisch 1999; Kurdek 1993;
Patterson 1995; Seferovic 2001).
Besonders schwierig ist die Situation allerdings für Lesben
und Schwule, die erst im Erwachsenenalter ihr Coming-out durchlaufen,
und für bisexuelle Menschen, vor allem wenn sie in einer
ihnen auch emotional viel bedeutenden Ehe leben und Kinder haben.
Sie geraten nicht selten in erhebliche Konflikte, wenn sie die
gleich- ebenso wie die gegengeschlechtliche Seite ihrer Orientierung
leben wollen. Häufig werden bisexuelle Menschen sich ihrer
Orientierung erst während der Ehe bewußt. Zögernde
Schritte in die Welt der Lesben und Schwulen führen zwar
zu sexueller Befriedigung und lassen die Gewissheit, bisexuell
zu sein, größer werden. Doch werden damit zugleich
auch die Probleme, denen sich diese Frauen und Männer zwischen
den Grenzen (Gleitz 1987) gegenübersehen, zunehmend
größer. Es ist in dieser Situation nicht nur die Befürchtung,
der Ehepartner könnte die gleichgeschlechtlichen Kontakte
entdecken, oder die Angst vor den sozialen Konsequenzen, wenn
die lesbische bzw. schwule Seite bekannt würde, sondern es
ist vor allem auch die innere Unsicherheit angesichts der von
Männern wie von Frauen ausgehenden erotisch-sexuellen Attraktion,
die den Prozeß der Selbstfindung bisexueller Menschen so
schwierig macht.
Verheiratete Lesben, Schwule und Bisexuelle erleben diesen Konflikt
besonders schmerzlich, da sie einerseits ihre enge emotionale
Verbundenheit mit Ehegatten und Kindern spüren, andererseits
aber auch ihre lesbische respektive schwule Seite leben möchten.
Sie müssen sich nicht nur mit den Gefühlen und Reaktionen
ihrer Ehepartner auseinandersetzen (Hart & Richardson 1981;
Lathan & White 1978; Wirth 1978), sondern sehen sich bei Versuchen,
eine Beziehung zu gleichgeschlechtlichen Partnerinnen oder Partnern
aufzubauen, auch von deren Seite her mitunter mit großem
Misstrauen konfrontiert. In dieser Situation, in der Eltern wie
Kinder, unter Umständen aber auch die Herkunftsfamilien der
Ehegatten, oft einer großen Irritation ausgesetzt sind,
können professionelle Beratungen und Begleitungen einzelner
Personen, aber auch des ganzen Familiensystems wichtig werden
und wesentlich zur Entlastung aller Beteiligten beitragen (vgl.
Kap. 10.3 und 10.4).
Auch wenn es viele über Jahre und Jahrzehnte stabile lesbische
und schwule Partnerschaften gibt, finden sich, verglichen mit
heterosexuellen Beziehungen, bei gleichgeschlechtlich Empfindenden
doch häufiger Beziehungsabbrüche und das Eingehen neuer
Partnerschaften. Es ist schwierig zu erklären, warum es zu
solchen mehrfachen Partnerschaften kommt. Wesentliche Ursachen
dürften in dem bereits diskutierten Fehlen der sozialen Akzeptanz
und der - trotz der jetzt in Deutschland möglichen juristischen
Absicherung der Partnerschaften - nach wie vor in etlicher Hinsicht
nicht zufriedenstellend geregelten rechtlichen Situation liegen
(z.B. im Hinblick auf die steuerlichen Bedingungen, das Adoptionsrecht
etc.). Daraus resultieren für diese Paare Belastungen nicht
nur für ihr individuelles, sondern auch für ihr gemeinsames
Coming-out. Hinzu kommt das Fehlen von positiven Leitbildern und
von Modellen gleichgeschlechtlicher Lebensweisen.
Für Beratungen und Therapien ist es wichtig zu berücksichtigen,
dass hinsichtlich der Beziehungsformen Unterschiede zwischen Lesben
und Schwulen bestehen. Neben jahrzehntelangen festen Partnerschaften
(berühmte Paare sind der Komponist Benjamin Britten und der
Sänger Peter Pears sowie die Künstler Jean Cocteau und
Jean Marais) finden wir bei Schwulen nicht selten eine Beziehungsform,
bei der eine emotional hoch bedeutsame, verbindliche
Beziehung zu einem bestimmten Partner besteht und daneben gelegentliche
sexuelle Beziehungen zu anderen Partnern gepflegt werden, wodurch
die Hauptbeziehung jedoch in keiner Weise gefährdet wird.
Lesbische Beziehungen folgen hingegen eher dem Muster der monogamen,
über lange Zeit stabilen Partnerschaft (zur Dynamik lesbischer
und schwuler Paarbeziehungen s. Kap. 9.1 und 9.2).
Diese Geschlechtsunterschiede sind jedoch keine Spezifika lesbischer
und schwuler Menschen, sondern finden sich in weitgehend ähnlicher
Weise auch im heterosexuellen Bereich. Auch hier neigen die Männer
starker dazu, Nebenbeziehungen (hier ,Seitensprung
genannt) einzugehen, während die Frauen eine stärkere
Tendenz zur Stabilität ihrer Beziehungen erkennen lassen.
Die Ursache dieser Geschlechtsunterschiede dürfte in der
unterschiedlichen Sozialisation von Frauen und Männern liegen:
Während Frauen, unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung,
in unserer Gesellschaft nach wie vor auf das Ideal der Monogamie
hin erzogen werden, gilt es für Männer, über alle
sexuellen Orientierungen hinweg, keineswegs als anstößig
- ja oft geradezu als Gütezeichen ihrer Männlichkeit
-, verschiedene sexuelle Beziehungen einzugehen. Ein wesentlicher
Unterschied zwischen schwulen und heterosexuellen Männern
liegt allerdings darin, dass die Seitensprünge
im heterosexuellen Bereich den Partnerinnen gegenüber in
der Regel verheimlicht werden, während die Nebenbeziehungen
in schwulen Partnerschaften oft mit Wissen des Partners erfolgen
und die Hauptbeziehung nicht gefährden.
Bei der Diskussion der gleichgeschlechtlichen Partnerschaften
stellt sich allerdings die Frage, ob es überhaupt sinnvoll
und legitim ist, diese Beziehungen am Ideal der monogamen, lebenslang
bestehenden heterosexuellen Ehe zu messen - und dies in einer
Zeit, in der die Scheidungsrate bei über 50 % liegt, jede
dritte Familie eine Eineltern-Familie ist und die sogenannte sequentielle·(d.h.
die auf eine bestimmte Lebensspanne beschränkte) Partnerschaft
auch in der heterosexuellen Gesellschaft weit verbreitet ist (Rauchfleisch
1997). Um es noch pointierter auszudrücken: Könnten
nicht Lesben und Schwule geradezu eine Avantgarde neuer, kreativer
Beziehungsgestaltungen sein, die auch für heterosexuelle
Paare wegweisend sein könnten, wie Edmund White (1996b) es
in seinem Essay Die Freuden des schwulen Lebens beschreibt?
Die egalitäre Rollenverteilung, das partnerschaftliche Aushandeln
der beidseitigen Rechte und Pflichten, die große Sensibilität
für eine ausgewogene Nähe-Distanz-Regulierung und die
Beachtung der Autonomie beider Partner, dies alles stellt charakteristische
Merkmale der gleichgeschlechtlichen Partnerschaften dar und könnte,
wenn es ähnlich in heterosexuellen Beziehungen verwirklicht
würde, dazu führen, dass auch gegengeschlechtlich empfindende
Frauen und Männer eine wesentlich größere Zufriedenheit
in ihren Ehen und nicht-ehelichen Partnerschaften erlebten.
Zur Integrationsphase gehört schließlich auch die Auseinandersetzung
von Lesben, Schwulen und Bisexuellen mit dem fortschreitenden
Alterungsprozess und seinen Konsequenzen. Auf der einen Seite
sind sie mit denselben Fragen konfrontiert wie heterosexuelle
Frauen und Männer: mit dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben,
mit der Adaptation an den veränderten Lebensrhythmus und
die sich verändernden körperlichen und psychischen Prozesse
sowie mit der Auseinandersetzung mit Krankheit und Tod (Rauchfleisch
2001b). In mancherlei Hinsicht sind Lesben und Schwule, die ihre
Angelegenheiten lebenslang selbständig organisiert haben,
auf diese Veränderungen sogar besser vorbereitet als viele
heterosexuelle Männer, die sich in ihren Partnerschaften
vielfach weitgehend auf ihre Ehefrauen stützen und ohne sie
oft hilflos den Lebensaufgaben, die sich stellen, gegenüberstehen
(s. Beeler et al. 1999; Grossman et al. 2000; Quam & Whitford
1992).
Auf der anderen Seite wird mitunter die Einsamkeit des gleichgeschlechtlich
empfindenden Menschen in einer stark von heterosexuellen Vorstellungen
bestimmten Welt im Alter besonders schmerzlich spürbar. Diese
Einsamkeit ist im schwulen Bereich zum einen durch die oft bis
zum Kult stilisierte Bedeutung der Jugendlichkeit und der körperlichen
Attraktivität bedingt, ein Phänomen, das sich durchaus
auch im heterosexuellen Bereich, hier aber weniger ausgeprägt,
findet (vermutlich weil heterosexuelle Männer diesen Kult
an ihre Frauen delegieren und auf diese Weise gleichsam·aus
zweiter Hand daran teilnehmen). Zum anderen rührt die
mitunter größere Einsamkeit von Lesben und Schwulen
im höheren Alter daher, dass es für sie trotz der heute
bestehenden größeren Akzeptanz der Homosexualität
äußerst schwierig, wenn nicht in der Regel sogar unmöglich
ist, in Alten- und Pflegeheimen offen lesbisch oder schwul zu
leben oder eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft zu pflegen
(zu den therapeutischen Implikationen dieser Situation s. Baron
& Cramer 1999). Nur vereinzelt bestehen bisher Wohnprojekte
für Lesben und Schwule im höheren Lebensalter (so in
Amsterdam) oder aber befinden sich in Planung (wie in Zürich).
Aus: Gleich und doch anders. Das Buch ist bei
Klett-Cotta erschienen, hat 246 Seiten, kostet 27,50 Euro, ISBN
3-608-94236-X Siehe auch in dieser Page unter Kultur, Archiv,
Buchbesprechungen 73. LUST.