aus der 75. Ausgabe der LUST
 
Gegen die Kommerzialisierung unseres Lebens
Sie muss schon Geld in der Tasche haben, wenn sie begreift, dass sie solche Frauen finden möchte, die mit ihr zumindest die Nei-gung teilen. Das ist nicht einfach. Es gibt Lokale von Frauen für Frauen, Zeitschriften mit Kontaktanzeigen, Web-Sites mit Kontaktan-zeigen und sogenannte Events, also größere Veranstaltungen für Frauen und Frauen. Aber ist das die ganze Wahrheit?
Er muss schon Geld in den Taschen haben, wenn er begreift, dass er solche Männer finden möchte, die mit ihm zumindest die Nei-gung teilen. Das ist nicht so einfach. Es gibt Lokale von Männern für Männer, Zeitschriften mit Kontaktanzeigen, Web-Sites mit Kontakt-anzeigen und sogenannte Events, also größere Veranstaltungen für Männer und Männer. Aber ist das die ganze Wahrheit?
 
Wo leben wir denn?
Wir leben unter den Bedingungen der Marktwirtschaft. Egal um wel-che Lebensumstände es sich handelt, es hat sich überall dort, wo es sich rentiert, also für irgendjemanden ausreichende Gewinne abwirft, eine marktwirtschaftliche Lösung entwickelt.
Überall? Nicht ganz. Bei den marktwirtschaftlichen Lösungsversu-chen menschlicher Bedürfnisse gibt es eine Abgrenzung gegenüber den Bereichen, deren Befriedigung keine Verzinsung des investierten Kapitals verspricht, wie es betriebswirtschaftlich so schön heißt.
In der Betriebswirtschaftslehre wird zwischen wirtschaftlichen und freien Gütern unterschieden. Freie Güter sind demnach solche, die nicht knapp sind, so dass man damit auch nicht wirtschaften kann, so dass man damit also keine Gewinne machen kann: Sand in der Sahara, Meerwasser im Meer usw. Also niemand kann aus uns Gewinne her-ausholen, wenn wir als Freundinnen oder Freunde zusammen stehen, denn Freund sein, das kann jeder Mensch, sofern man sich gefunden hat. Aber die Orte, wo man sich finden kann, da kann jemand die hand aufhalten und seine gewinne machen. Und an Sexualität zum Beispiel fehlt es uns alle nicht. Nur an den Orten, wo man versucht, die ent-sprechenden PartnerInnen zu finden, dort lassen sich Gebühren erhe-ben.
Also, das nicht Wirtschaftliche, was im Überfluss vorhanden ist, be-kommt keine marktwirtschaftliche Lösung, weil man damit keinen Profit abschöpfen kann. So können sich also aus der Summe der Be-dürfnisse nur solche Bedürfnisse marktwirtschaftlich beziehungsweise kommerziell in Ansätzen erfüllen, für die keine Angebote im Über-fluss vorhanden sind, für die also dann auch wirtschaftliche Angebote vorliegen. Und deshalb ist es im Marktwirtschaftlichen Interesse: Er-folgreiche Kontakte und Freundschaften, die sich selbst genügen, müssen knapp bleiben. Noch besser: es werden nur solche Bedürfnisse als solche anerkannt, propagiert und glorifiziert, die auf wirtschaftli-che Weise zu befriedigen sind. Die menschlichen Sehnsüchte werden also getrennt, und zwar zwischen den guten und wahren, also den wirtschaftlich zu befriedigenden Sehnsüchten, und den anderen, die in der Wirtschaft weniger beliebt sind.
 
Es gibt demnach
1. menschliche Bedürfnisse, die wirtschaftlich zu befriedigen sind. Hier hält unsere Szene für die, die zahlen können, Einiges be-reit. Und es gibt
1. menschliche Bedürfnisse, die sich sowohl wirtschaftlich als auch nichtwirtschaftlich befriedigen lassen. Hier finden oft ganz gehässige Auseinandersetzungen zwischen der kommer-ziellen Szene und anderen Teilen des lesbischen und schwulen Daseins statt. Dann gibt es
1. aber auch menschliche Bedürfnisse über das Wirtschaftliche hinaus, und zwar die wichtigsten, zufriedenstellendsten und nachhaltigsten. Diese zählen nicht, da sich einfach nicht wirt-schaftlich befriedigen lassen. Schließlich gibt es
1. Bereiche, für die es keine Lösungen geben soll, weil man als Folge der Nichtlösung wirtschaftlich besser verdienen kann als wenn die lesbischen und schwulen Menschen eine Lösung hät-ten. Dann gibt es aber auch
2. noch Bereiche, die alle benötigen würden, die aber deshalb marktwirtschaftlich nicht gelöst werden können, weil es für sie einfach keine lohnende (wirtschaftlich rentable) Finanzierung gibt.
Das sind nun alles recht abstrakte Denkansätze, wollen wir sie also mit Beispielen aus unserem Leben erläutern.
 
1. Die marktwirtschaftliche Lösung
(...menschliche Bedürfnisse, die wirtschaftlich zu befriedigen sind. Hier hält unsere Szene für die, die zahlen können, Einiges bereit. Und es gibt ...)
Wer sich ständig in der sogenannten Szene aufhält, der kennt die marktwirtschaftlichen Programme zur Bedürfnisbefriedigung. Die Szene hat für uns besonders zwei Funktionen: dass wir in einem Um-feld sind, wo wir uns für unsere Identität nicht zu rechtfertigen brau-chen. Und dass es einen Ort gibt, wo man hoffen kann, jemanden ken-nen zu lernen.
Für die dennoch einsamen Nächte gibt es die speziellen Hefte, Filme und Web-Sides, mit deren Hilfe man sich selbst befriedigen kann, oh-ne sich freilich nachhaltig befriedigt zu fühlen. Und es gibt natürlich bestimmte Einrichtungen, in denen Leute arbeiten, die ihr Geld mit sogenannten Liebesdiensten verdienen. Denn man muss es ja immer wieder kaufen und benötigen, damit die Gewinne erhalten bleiben. Es gibt Badehäuser beziehungsweise Saunen, wo Mann sich gegenseitig sexuell bedienen kann, manchmal arbeiten auch noch Männer dort, die Ihr Geld mit Liebesdiensten verdienen. So etwas wird bisweilen in der Lesbenszene vermisst, aber eben nicht in dem Maße, dass sich hier eine wirtschaftliche Einrichtung rentieren kann. Ach ja, es gibt noch spezielle Telefonnummern, unter denen man für ständig steigernde Gebühren erotisch anfeuernde Reden hören kann. Dann gibt es noch Zeitschriften, in denen frau/man erfahren kann, wo was stattfindet. Sie sind meist Werbungsfinanziert und daher sind die "besten Plätze" na-türlich die, die auch die größten Anzeigen schalten.
Man erfährt hier auch, wie man gekleidet sein muss und wie der kör-perliche Zustand sein muss, damit man in der kommerziellen Szene Erfolg hat. Schließlich gibt es noch Kontaktanzeigen in den Zeit-schriften und im Web. Und in den begleitenden Artikeln erfährt man auch, welche Werte in der Szene gelten, was man also dort reinschrei-ben muss und welche man nicht beantworten sollte. Die entsprechen-den Fitness-Studios und die Modeboutiquen schalten auch ihre Anzei-gen in den entsprechenden Zeitschriften.
Und so erfahren eine Lesbe der Szene und ein Schwuler der Szene, wie man/frau lesbisch oder schwul ist, welche Werte es in der Szene gibt und wie man/frau dort eine(n) Frau/Mann finden kann. Letztlich auch, zu welchem Zweck frau eine Frau findet und man einen Mann.
 
2. Die lösbaren menschlichen Bedürfnisse
(...menschliche Bedürfnisse, die sich sowohl wirtschaftlich als auch nichtwirtschaftlich befriedigen lassen. Hier finden oft ganz gehässige Auseinandersetzungen zwischen der kommerziellen Szene und anderen Teilen des lesbischen und schwulen Daseins statt. Dann gibt es ...)
Nun gibt es menschliche Bedürfnisse, die sich sowohl wirtschaftlich als auch nichtwirtschaftlich befriedigen lassen. So kann Mann Direkt-Kontakte z. B. in einem House of Boys oder einem Lokal mit Darkroom oder einer Sauna bekommen, was überall mehr oder weni-ger Geld kostet. Mann kann diese aber auch auf einer Klappe, in ei-nem Park oder im Wäldchen hinter einer Autobahnraststätte bekom-men. Das kostet zwar nichts, kann aber letztlich doch recht kostspielig werden, denn hier sind auch bisweilen Kleinkriminelle zu finden, die den nach Befriedigung drängenden Mann ausplündern wollen, von aufgehetzten Zeitgenossen ganz zu schweigen. Man kann im Prinzip überall auch andere Menschen erst einmal kennen lernen, beim Spa-ziergang, im Sportverein oder sonstwo, und unter ihnen sind vielleicht einige, mit denen man dann nach und nach Direktkontakte bekommen kann. Dieses Verfahren ist aber recht mühselig, von der Möglichkeit falscher Einschätzungen und ihrer Folgen ganz zu schweigen.
Besser geht's mit Anfreundungsversuchen lesbischer Frauen mit He-tenfrauen und schwuler Männer mit Hetenmännern überall, wo es sich trifft. Da bleiben aber so Manche und so Mancher oft völlig unbefrie-digt, denn diese Freundschaften finden oftmals eine harte Grenze, und zwar genau da, wo wir etwas mehr bräuchten, was aber Heten gar nicht so sehen. Sie empfinden unser Buhlen um ihre Gunst als ange-nehm und halten es für selbstverständlich, dass wir ihnen auf Dauer derart aufopferungsvoll entgegenkommen, wie wir es tun, weil wir in sie vielleicht verliebt sind. Ja sie werfen uns noch vorwurfsvoll vor, uns gehe es nur um das Eine, während diese Situation eigentlich nur entsteht, weil sie ständig bedacht sind, genau das Eine aus der Freund-schaft draußen zu halten. Dafür sind ihnen dann andere Leute zustän-dig.
Es finden oft ganz gehässige Auseinandersetzungen zwischen der kommerziellen Szene und anderen Teilen des lesbischen und schwu-len Daseins statt. Gruppen und Initiativen, die zum Beispiel ein Fest organisieren, werden als Konkurrenz angesehen, die den Betrieben die zahlenden Gäste wegnehmen. Ja die Tatsache der Existenz mancher Gruppen wird bisweilen an sich schon als Konkurrenz empfunden.
So manche Gruppe würde sich zwar gerne im Hinterzimmer eines Szene-Lokales treffen, doch gibt es einfach keine relativ ungenutzten Hinterzimmer mehr. Da kann man sich hier also gar nicht ungestört treffen.
So gehört es zum "Guten Ton" in der kommerziellen Szene, in kri-tischster und abfälligster Weise zum Beispiel über Cruising-Plätze zu sprechen, aber wenn die kommerzielle Szene die Erwartungen nicht erfüllt, gehen doch recht Viele zu den nichtkommerziellen Cruising-Plätzen. In den Medien unserer Szene findet man viele kritische Bei-träge gegen diese Plätze, z.B. hat Jan Feddersen, taz-Journalist, nicht nur den Soziologen und Sexualwissenschaftler Martin Dannecker für dessen Haltung kritisiert, diese Plätze zu verteidigen. Er hat auch noch im bundesweiten CSD-Blatt behauptet, dass es solcher Plätze nicht mehr bedürfe. Wo lebt der denn?
3. Menschlichen Bedürfnisse, die außerhalb der Wirtschaft und der Wirtschaftlichkeit angesiedelt sind
(...aber auch menschliche Bedürfnisse über das Wirtschaftliche hinaus, und zwar die wichtigsten, zufriedenstellendsten und nach-haltigsten. Diese zählen nicht, da sich einfach nicht wirtschaftlich befriedigen lassen. Schließlich gibt es ...)
Homosexualität, genauer, die männliche Version davon, war gesetzlich verboten. Also konnte es auch keine legale wirtschaftliche Lösung für männliche Homosexuelle geben. Es gab natürlich spezielle Kneipen, aber die waren nicht offiziell schwul. Man duldete sie teilweise, weil man sich davon versprach, dass die Schwulen dann dort konzentriert seien, unter unauffälliger Bewachung sozusagen, und die un-schuldigen Jugendlichen an anderem Ort nicht sexuelle gefährden würden.
In den Kneipen nun achteten die Wirte darauf, dass sich dort niemand umarmte oder sogar küsste, denn es musste ja immer noch der offizielle Anschein gewahrt werden, dass dort jeder "normale" Bürger willkommen sei. Es war hier eine an Hetennormen und Verhaltensweisen angepasste duckmäuserische Szene, in der man übereinander gegenseitig tratschte und den Ton gaben einige wohlhabende Kulturtypen an.
Man lernte sich hier kennen, man mochte sich gegenseitig kaum und gab sich Mühe, nicht als Schwuler in Erscheinung zu treten. Eigene Medien waren auch nur versteckt vorhanden und bedienten eher Ele-mentares: Bilder als Ersatz für Partnerschaft. Paare achteten darauf, nicht zusammen das Lokal zu verlassen, damit nicht, nachdem man zu jemanden nach Hause gegangen ist, nach einiger Zeit ein Rollkom-mando von der Polizei gekommen ist, um die beiden bei den "gesetz-widrigen Handlungen" zu überraschen, oder um die beiden festge-nommenen so lange zu verhören, bis einer dem Druck nicht mehr ge-wachsen war und somit sich und den Partner und möglicherweise an-dere Partner verriet und damit mit hineinzog. Der aus der Nazi-Zeit ü-bernommene § 175 des Strafgesetzbuches schwebte über jeder zärtli-chen Geste, und, historisch betrachtet, hat der CDU-Staat mehr schwule Männer verurteil als der Nazi-Staat. Damit machte sich die CDU zum Todfeind der Schwulen.
Aufgrund der 68er Revolte, die ja eine politisch linke, eine Jugend- und Sexrevolte war, wurden die spießigen Auffassungen des rechtsge-richteten CDU-Staates einfach infrage gestellt, nicht weiter beachtet. Das traf natürlich auch auf jugendliche Heten zu, wobei zum Teil nicht immer eine Identität hinter den experimentellen Handlungen stand. Auch heterosexuell verkehrende Jugendliche organisierten sich ihr eigenes Liebesleben und interessierten sich nicht mehr für den zwanghaften Verlauf: verliebt, verlob, verheiratet. Homosexuell ver-kehrende fanden hier auch ihre Möglichkeiten.
Es entstand also unter den revoltierenden studentischen Jugendlichen eine eigenständige Jugendkultur, in der endlich der repressive Ehe-Zwang mit seiner raffgierigen Klammermoral infrage gestellt wurde in der auch, als unschöner Fettfleck auf den flatternden frisch gewasche-nen roten Fahnen, eine freie Schwulenszene entstand, die stolz auftrat, überhaupt nicht verborgen sein wollte, gegen Unterdrückung und Dis-kriminierung vorgingen, und die all die fürchterlichsten Vorurteile der Spießer über Schwule frech übertrieben und grell im Fummel betätig-te. Damit gerieten diese jungen Menschen mit homosexueller Praxis und einer linksschwulen Identität sie in den Widerspruch zur kom-merziellen Szene der heimlichen Lokale, wo man ja bloß nicht auffal-len wollte. Und so gab es zwischen diesen beiden Fraktionen oftmals sehr böses Blut. In der Subkultur befürchtete man, dass diese linken Schwulen die aggressive Aufmerksamkeit von der CDU-Moral auf-gehetzter Leute auf die heimlichen Schwulen lenken würden.
Diese neue linke Schwulenbewegung fand besonders auch Unterstüt-zung bei der neu entstehenden Frauenbewegung, in der viele Lesben waren, und so entstanden frühe Formen der Zusammenarbeit von lin-ken Schwulen und linken feministischen Lesben. Neben den in den kommerziellen Medien breit diskutierten und diffamierten Kommunen und Wohngemeinschaften gründeten sich lesbische und schwule Kommunen und Wohngemeinschaften, und man achtete im täglichen Leben untereinander überhaupt nicht darauf, ob es irgendwelche Ge-setze oder spießige Nachbarn gab, die sich als Hilfspolizisten verstan-den, die uns in unserem Spielraum einschränken wollten. Man lebte einfach. (Nach und nach dann später wurde der § 175 StGB Schritt für Schritt abgebaut und durch die Wiedervereinigung schließlich abge-schafft, weil es so etwas in der DDR längst nicht mehr gab.)
Zurück zur 68er Revolte: In den neu entstandenen Medien der linken Schwulenszene war man sich zuerst einmal darüber klar, dass man erst einmal unter den linken Genossen Verständnis für schwules Le-ben erwerben musste, unter den linken Frauen Verständnis für ein be-freites offensives sexuelles Leben ohne Schuldgefühle, um von ir-gendjemanden Rückendeckung dafür zu bekommen, dass man dann in der kommerziellen Schwulenszene selbst die verspießerten und auf Anpassung bedachten Strukturen verändern konnte.
Man wollte erreichen, dass man als Schwuler stolz leben konnte, ohne einerseits ein unterwürfiges Selbstbewusstsein zu haben und sich an-dererseits innerhalb der eigenen Szene dafür schadlos halten zu wol-len, denn das ist die Kehrseite einer auf Anpassung bedachten Politik: Man sieht die Feinde im eigenen Lager. Feinde sind dann nämlich die, die unangepasst sind. Während die wohlhabenden Herren der Sub-kultur sich ihre jugendlichen Gespielen hielten oder zu halten ver-suchten, ohne das jemand etwas mitbekommen sollte, waren experi-mentierfreudige Jugendliche unter den frechen schwulen Revoluzzern, die alles anders machen wollten, als die angepassten anderen. Man verachtete auch Leute, die sich ihr Leben lang beschneiden, die ihr Leben lang also verlogen und selbstverlogen leben, ihrer wirtschaftli-chen Karriere zuliebe.
Schließlich hatte man das Ziel, in einer (wie man das damals so sah) immer kultivierteren, gerechteren und sozialistischeren Gesellschaft homosexuelles Leben nicht mehr als ein besonderes Leben leben zu wollen. Bestenfalls wollte man selbst was Besonderes sein. Man wollte endlich als Mitmensch anerkannt werden, aufgrund seines ge-sellschaftlichen Beitrages, den man leistete. Tja, so dachten wir uns das.
Und weil Vieles als verboten oder anrüchig erschien, gab es in diesen Bereichen auch kaum marktwirtschaftliche Lösungsversuche, was uns den Freiraum schuf, in unseren Reihen eigene Strukturen zu entwi-ckeln.
Es entstanden Gruppen, in denen ältere und auch jüngere Schwule zu-sammen gegen spießige gesellschaftliche Strukturen in der Gesell-schaft im Bett, in der Subkultur und unter den linken Genossen kämpften. Man lebte und liebte zusammen, freute sich seines freien Lebens. Hier wurden so ziemlich alle gesellschaftlichen Bedürfnisse dieser schwulen Menschen befriedigt: man lernte sich gegenseitig kennen, und zwar nicht aufgrund besonders teurer Kleidung, sondern aufgrund seines Beitrages bei der Revolte für gemeinsame Ziele. Es entstanden Theatergruppen, die in jeweils anderen Szenen die Leute aufrütteln wollte. Unsere eigene Medien, die uns auch in der Subkul-tur aus den Händen gerissen wurden, ermöglichten uns, dort selbstbe-wusstere Töne anklingen zu lassen.
Dabei hatten wir oftmals auch als verbündete manche Wirte, die ja schließlich auch gegenüber den Behörden oft einen schwachen Stand hatten und die von dem sich neu entwickelnden selbstbewussten Kli-ma profitieren wollte. Und damals war es auch noch so, dass man in der linken Szene gegenseitig voneinander Kenntnis nahm. Man las die Texte der anderen, um zu verstehen, was die anderen meinen usw. Die ROSA LÜSTE ist noch immer eine solche Gruppe, die LUST ist noch immer eine solche Zeitschrift. Das gegenseitige aufeinander Hören änderte sich erst mit der zunehmenden Kommerzialisierung, bei der sich kleine Märkte gegenseitig voneinander abgrenzten und die Ab-grenzungen ideologisch begründet wurden.
In den selbstverwalteten Jugendtreffs fühlten sich oftmals die neu ent-stehende Frauenbewegung und auch Schwulengruppen nicht mehr ausreichend zu Hause, frau/man hatte Höheres im Sinn, Orte: wo die eigene Fragestellung dominierte. So entstanden nun zum Beispiel als männerfreie Zonen, neue Frauenzentren.
Es entstanden auch Schwulenzentren in größeren Städten, wo anfäng-lich ein guter Austausch zwischen den Generationen über Politik, Kultur und tägliches Leben stattfinden konnte. Denn zunehmend konnten auch über SPD und nach der Gründung der bunten Listen, dann der grünen und alternativen Listen über diese Wählerlisten öf-fentliche Mittel für solche Einrichtungen bereitgestellt werden, oft-mals unter üblen menschenverachtenden Anfeindungen seitens der CDU/CSU und der Kirchen. Man kann sagen, dass hier, außerhalb ei-nes kommerziellen Einflusses ein lebenswertes Leben entstand. Und das alles geschah im Rahmen von gesellschaftspolitischen Zielen, auf die man stolz sein konnte.
Mit dieser Beschreibung will ich von einem vergangenem Leben be-richten, was es zur Zeit nur noch in isolierten Inseln gibt, und was deshalb derart erblühte, weil das Leben hier nicht zerhackt wurde zwi-schen dem guten Leben, dem kommerziellen, und dem zu verachten-den Leben.
Es gibt also ein zufriedenstellendes Leben jenseits des kommerziellen (wirtschaftlichen) Gewinnstrebens, das sich auch im zwischen-menschlichen Bereich auswirkt, das wollte ich hier nur einmal vor-stellbar machen.
Klar ist, dass dieses Leben dann auch in den eigenen Reihen von sol-chen Menschen unterlaufen wurde, die überall unterwegs sind, he-rauszufinden, wo sich Geschäfte machen lassen. Es wurde oft auch von profilierungsgeilen Leuten unterlaufen, denn die Verwundungen der antischwulen Diskriminierungen führen oftmals zu solchen Ver-haltensweisen. Eine Folge davon ist die erneute Trennung zwischen den Generationen in unserer Szene, von der politisch ausgerechnet die CDU profitiert, denn die jungen Leute in der Szene kennen ja die Kämpfe der älteren nicht und wollen zumeist auch nichts darüber wissen.
 
4. Menschlichen Bedürfnisse, die aus wirtschaftlichen Gründen nicht lösbar erscheinen sollen
(...Bereiche, für die es keine Lösungen geben soll, weil man als Folge der Nichtlösung wirtschaftlich besser verdienen kann als wenn die lesbischen und schwulen Menschen eine Lösung hätten. Dann gibt es aber auch ...)
Nach dem kapitalistischen Umsturz in Rumänien zeigte es sich, dass die Lage für schwule Männer nicht besonders verbessert war. Die ru-mänisch orthodoxe Kirche machte ihren Einfluss geltend und die Be-strafung gelebter männlicher Homosexualität wurde nicht abgeschafft. Verboten wurde zwar nicht mehr die Selbsterklärung, dass man homo-sexuell sei, aber jeglicher sexuelle homosexueller Kontakt. Anderer-seits entstanden Telefonanbieter, ähnlich unserer 0190-Nummern, in denen auch homosexuelle Männer beworben wurden. Die perfekte Geschäftsidee, Sex verbieten und die kostenpflichtige Ersatzbefriedi-gung anbieten, denn es ist herausgekommen, dass die Kirche an den Schmuddel-Telefonen mitverdient.
 
2. In Erwägung, dass wir hungrig bleiben
wenn wir dulden, dass ihr uns bestehlt
wollen wir mal feststell'n,
dass nur Fensterscheiben
uns vom Brote trennen, das uns fehlt.
Aus "Resolution der Kommunarden" von B. Brecht
 
Wenn man essen will/muss, benötigt man Geld, um sich die nötigen Lebensmittel zu kaufen. Wenn man Geld haben will, muss man eine Arbeit annehmen. In Wirklichkeit nimmt man nicht eine Arbeit an, sondern man wird Teil eines Abhängigkeitssystems in fremden Diensten. Man arbeitet nicht beiläufig, sondern man wird mit Haut und Haaren gefressen, und die Freizeit wird ebenfalls von der Arbeit beeinflusst. Es gibt auch andere, die deshalb Geld haben, weil Men-schen in Abhängigkeit zu ihnen arbeiten. Für uns ist es selbstver-ständlich, unser Geld durch Arbeit zu erwerben, wenn man uns nur lässt. Das lernen wir von klein auf und haben es verinnerlicht.
Bei anderen Völkern und zu anderen Zeiten war das wohl anders. Wer Hunger hatte fuhr mit seinem Auslegerboot auf die Lagune raus und holte sich was, oder er kletterte auf eine Palme. Oder man arbeitete nicht in fremden Diensten, die jemanden Gewinn bringen, sondern für sich selbst.
Unter marktwirtschaftlichen Bedingungen soll uns Glauben gemacht werden, dass man alles für Geld bekommt und dass das, was es kostenlos gibt, nichts ist. Und damit der Rubel ständig und unermüdlich in die richtigen Taschen rollt, sollen wir auch ständig und unermüd-lich unzufrieden sein und daher immer mehr haben wollen.
Wenn Du dich zu Hause einsam fühlst, niemanden zum Sprechen hast, auch niemanden, dem du dich anvertrauen kannst, musst Du zum Bei-spiel in die Disco gehen. Dort gibt es bei dem gleichen Rhythmus ei-nen scheinbaren Gleichklang der Bewegungen, einen Gleichklang an Glücksgefühlen durch den rauschartigen Zustand, in den Dich die spe-zielle Atmosphäre der Disco versetzt. Während der Zeit Deiner Anwe-senheit fühlst du dich aufgehoben, als Teil einer Szene, nicht isoliert usw. Und wenn Du dann wieder zu Hause alleine bist, fehlt dir das, du bist eben einsam. Also musst du immer wieder da hin.
Fällt dir auf, dass du eigentlich gar keine guten Gespräche geführt hast, dass du dich noch immer niemanden anvertrauen kannst? Im Gegenteil: um die guten Gespräche führen zu können, müsstest Du aus der Disco raus, damit du ein Gegenüber überhaupt verstehen kannst. Aber während du rausgehst, schwindet auch das kollektive Disco-Gemeinsamkeitsgefühl. Und während du rausgehst, stellst du fest, dass die Person, mit der du rausgegangen bist, dir fremder und fremder ist, so dass ein Gesprächsversuch eher kümmerlich wird und sich die ersehnte Zufriedenheit mit diesem gutaussehenden und fremden Menschen nicht einstellt. Man kann sich ihm schon gar nicht anvertrauen.
Wir lernen also: es kann dies nicht geben, was wir uns ersehnen, weil wir selbst dazu unfähig sind.
Denn würden wir durchschauen, dass wir gerade durch diese Struktu-ren vom Erreichen unseres Zieles abgelenkt werden und dass wir unser Ziel durchaus erreichen könnten, freilich nicht auf diesem Weg und ohne dem Rauschzustand des Disco-Gemseinsamkeitsgefühles (das zu diesem Zweck auch nicht nötig wäre) würde wir ja auch nicht mehr so oft es geht in die Disco laufen und dort unser ganzes Geld ausgeben. Wir aber sollen glauben, dass wir das Gefühl der Erfüllung dort schon bekommen können, wenn wir es dort nur richtig anstellen, nämlich entsprechend modisch gekleidet sind, um von den richtigen Menschen für attraktiv gehalten zu werden, die richtige Frisur und Haarfärbung haben usw.
Und die so witzigen und schlauen MeinungsführerInnen in der Disco reden auch verachtungsvoll über solche, die nicht ihren Erwartungen entsprechen, also nicht teuer gekleidet sind usw.
Die Lösung wäre nun vielleicht, es in einer Kneipe zu versuchen, wo man mit den Tischnachbarn sprechen kann. Vielleicht klappt es da wirklich, dass man gute Gespräche führt, bei denen man sich kennen lernen kann.
Doch die Tischanordnung kann verhindern, dass man von Tisch zu Tisch kommunizieren kann, und vielleicht sind die Leute dort derart drauf, dass man sich nicht so einfach zu jemanden setzen kann. Häufig sind die Leute heutzutage völlig ungeübt in der zwischenmenschlichen Kommunikation und tun so, als wäre hier die Disco. Niemand will dort mit denen reden, die man äußerlich für unerotisch und unattraktiv hält und wodurch das eigene Image leidet. Da kommt es nun auf den Wirt an, ob es ihm gelingt, in seinem Betrieb eine faire Gesprächskultur zu entwickeln, wo man sich also wohl fühlen kann.
Nun werden uns in unseren Medien und eigentlich überall raffiniert die schönsten Frauen beziehungsweise Männer überall so vor die Nase gehängt, so dass jede Frau und jeder Mann unserer Szene die Sehnsucht hat, solch einen Menschen zu finden, während doch nur "solche" NachbarInnen in der Szene rumhängen, wie sie eben dort rumhängen, und die eben diesen Bildern nicht entsprechen.
Und die attraktiven Menschen sind jung, schlank und modisch und benutzen Solarien, lassen keck den Baunabel sehen, verhalten sich bei ihren Bewegung, als seien sie gerade bei einem Geschlechtsakt, sie verhalten sich wie erotische Bomben beziehungsweise wie die Gummipuppen aus dem Pornoladen, wobei es um nichts als Fleischeslust geht. Aber sind sie dann auch menschlich erstrebenswert?
Das Beurteilen der Menschen nach diesen äußerlichen Gesichtspunkten ist natürlich absolut abwegig, denn um zwischenmenschliche Zufriedenheit empfinden zu können, kommt es viel mehr darauf an, ob der potenzielle Partner, die potenzielle Partnerin solche zwischen-menschlichen Verhaltensweisen drauf hat, die wir als Balsam für unsere Seele benötigen, und letztlich auch solche sexuellen Praktiken liebt, die unsere sexuellen Träume erfüllen können.
Unsere erotische Sehnsucht erfüllt sich nun gar nicht dadurch, dass wir beschließen, dieser Mensch da drüben ist der schönste und in den habe ich mich verliebt und den muss ich haben. Erstens ist er schon vergeben und nicht von der Meinung abzubringen, dass er seinen ge-genwärtigen Partner für besser hält. Und was macht man dann, wenn man schon wieder nicht fündig wird?
Man kann sich Filme und Hefte kaufen, in denen bei etwas Phantasie ein Ähnlicher wie der, den wir gesehen haben, sich genau so verhält, wie wir es bräuchten. Und daher kommen wir nicht auf die Idee, mit dem anwesenden Nachbar mal zu kommunizieren, der schließlich überhaupt nicht infrage kommet, wegen seiner Frisur, seiner Mode, seines Musikgeschmacks, seines Alters ... Die ganze Szene ist voll von Menschen, die auf der Suche sind und die den Traummenschen hier nicht vorfinden.
Manche schaffen es, tatsächlich, den Prinz ihrer Träume als menschli-che Verkörperung in der Realität zu erobern, wie es so schön heißt. Vielleicht ergänzen sich auch die sexuellen Wünsche. Und dann stel-len sie fest, mit dem könnte ich nicht über dieses klassische Musik-stück sprechen, nicht einmal annähernd über Kultur, weil er gar keine hat. Tja, nichts ist eben vollkommen.
Einige versuchen es natürlich, ein kurze Zeit ihres Lebens so viel zu erleben, wie es ihnen möglich ist. Aber da sie dabei ganz bestimmten Leitbildern folgen, andere völlig ausschließen, müssen sie erleben, dass sie selbst kaum solchen Leitbildern entsprechen und die Chance, als solches angesehen zu werden, ständig kleiner wird. Es ist ja im Gegenteil so, dass die, die selber den Leitbildern nicht mal im ent-ferntesten entsprechen, am dogmatischsten nach der hundertprozen-tigsten Erfüllung ihres Leitbildes bei ihrer Partnersuche streben. Genauer betrachtet ist es gar nicht ihr Leitbild, nach dem sie streben, sondern eines, das uns in den Medien als Leitbild ununterbrochen vorgeführt wird. Und das bringt eben Gewinne in die Kasse und hilft in Wirklichkeit niemanden im zwischenmenschlichen Umgang miteinander.
 
5. Bedürfnisse, die befriedigt werden müssten, die aber nicht finanzierbar sind
(...noch Bereiche, die alle benötigen würden, die aber deshalb marktwirtschaftlich nicht gelöst werden können, weil es für sie einfach keine lohnende (wirtschaftlich rentable) Finanzierung gibt.)
Es wurden seit den späten 60er Jahren von engagierten Menschen Begegnungsstätten entwickelt, in denen es nicht nach kommerziellen Gesichtspunkten abgehen sollte. Kleine Gruppen trafen sich ja anfänglich in Wohnungen, was teilweise zu Schwierigkeiten mit Wohnungsnachbarn oder VermieterInnen führte, was aber eine vertraute Atmosphäre erzeugte, und diese Grüppchen waren sehr kreativ. Wer aber keinen Zugang nach solch eine Clique hatte, musste leider alleine bleiben.
Später, als auch für unsere Infrastruktur öffentliche Mittel bereitstanden, entstanden Frauenzentren und Schwulenzentren, selten in Zu-sammenarbeit. Immerhin hat sich die Mainzer Schwulengruppe recht lange regelmäßig im Mainzer Frauenzentrum getroffen. Später dann in einem eigenen Zentrum. Hier kam es dann auf die Persönlichkeit der Anwesenden an, wie man miteinander umging und wie man seine ei-genen offenen und heimlichen Ziele in den Gruppenstrukturen unter-bringen konnte.
Um heutzutage ein nichtkommerzielles Zentrum am Leben zu halten, benötigt man öffentliche Mittel. Diese öffentlichen Mittel werden nun zunehmend knapper und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis es sie gar nicht mehr gibt. Das Schließen solcher Zentren kann wirtschaftlich oder ideologisch begründet werden. Wird es ideologisch begründet, dann beginnt für uns wieder eine schwere Zeit.
Der Erfolg solcher Zentren ist aber, wenn sie mal existieren, nicht ga-rantiert, denn es kommt darauf an, dass sie in der Szene auch ange-nommen werden. Anpassungen an die Szene bedeuten, der Szene ähnlich zu werden. Und große öffentliche Einrichtungen, wenn sie noch bestehen, werden dadurch ein derart Innenleben bekommen, dass auch hier nur noch die Regeln der kommerziellen Welt gelten. Unter solchen Bedingungen entstehen dann für marktwirtschaftlich orientie-ren Menschen bessere Wege, das Innenleben der Zentren zu beeinflussen als den sozial engagierten Menschen. Sagen wir, wie es ist: erfolg-reiche große öffentliche Strukturen laufen stehen immer in der Gefahr, zum Spielball von Korruption und privater Bereicherung zu werden. Dies trifft natürlich auch auf entsprechende Einrichtungen in unserer Szene zu.
Werden heutzutage unsere Zentren nur dann angenommen, wenn hier ein kommerzielles Selbstverständnis vorherrscht oder auch dann, wenn eine gewisse Gegenkultur hier eine Chance hat? Es gibt eine ganze Reihe von Zentren, die nicht mit der Zeit gingen, die also nicht kommerziell wurden, die schlicht austrockneten. Und das kam so. Überall in der Szene wurde über sie gelästert. Die blödesten Zeitgenos-sen hetzten am lautesten, und dadurch kamen tatsächlich immer weni-ger Leute, man machte sie letztlich zu, weil sich für die Zahlmeister der Kommunen kein Sinn mehr erkennen ließ, sie am Leben zu lassen. Keiner kam mehr dort hin.
Auch Gruppen, die sich in Wohnungen trafen, trockneten aus, beson-ders weil deren Initiatoren auch älter wurden und somit für junge nachwachsende Leute nicht attraktiv erschienen. Immer mal steigt je-mand aus. Wenn nachwachsende Junge nicht mehr kommen, ist die Gruppe letztlich zum Absterben verurteilt. Und wenn in der Gesellschaft die Generationsgrenzen immer höher werden, werden sie auch bei uns immer höher.
Dadurch können die Nachwachsenden einer Bewegung auch nicht von den Erfahrungen der Älteren profitieren. Sie müssen dann, wie man so schön sagt, immer wieder das Rad neu erfinden. Wenn Subventionen in unsere Szene fortfallen, werden auch wissenschaftliche und kultu-relle Bereiche, die von ihnen leben und unsere Szene bereichern, weg-fallen. Es wird keine Beratungsstellen mehr geben können, keine Hilfseinrichtungen. Im Grunde sind es politische Entscheidungen, was subventioniert wird und was nicht.
Weltweit werden die öffentlichen Bereiche privatisiert, wird die sogenannte Staatsquote gesenkt, bleibt nur noch übrig, was sich kommerziell betreiben lässt. Zum Beispiel rechnet sich das Altwerden per se nicht. Also muss man ein Geschäft daraus machen, dass die Alten nicht verhungern, wenn sie nicht mehr arbeiten. Die Rente wird also schrittweise kommerzialisiert. Auch eine Krankheit kann wirtschaftli-chen Ruin bedeuten. Also muss das Krankengeld über eine private Versicherung abgesichert werden. Das senkt den Unternehmern die Lohnkosten und ermöglicht noch manchen Versicherungsunterneh-mern, satte Gewinne einzustreichen.
Da wir damit rechnen müssen, dass auch in unsrer Szene nur noch üb-rigbleiben wird, was sich selbst kommerziell trägt, und da wir wissen (siehe oben), dass dies nicht das ganze Leben ist, benötigen wir wie-der die kleinen Zellen der Gegenkultur, kleine Gruppen von Lesben und Schwulen, die sich in Wohnungen treffen und die in eigenen Reihen andere Formen des Umgangs miteinander pflegen, als es in der kommerziellen Szene üblich ist. Solche Inseln sind nicht stabil und ih-re TeilnehmerInnen haben das kommerzielle Denken ja in sich und werden ihre Erfolge gegen andere haben, indem sie die kommerzielle Welt dort vertreten. Aber es kann eine Ahnung von Anteilnahme und Mitmenschlichkeit entstehen.
Damit wird das kommerzielle Zeitalter nicht beendet, wir benutzen nur die Lücken des menschlichen Daseins, die sich kommerziell nicht rechnen, zum eigenen Vorteil.
 
Wann leben wir denn?
Diese Frage, so unsinnig sie erscheinen mag, hat zwei Aspekte. Wir leben im Zeitalter der Marktwirtschaft und wir können an den Segnungen dieser Wirtschaft dann teilhaben, wenn wir uns dort erfolgreich verkaufen können. Dennoch sind die marktwirtschaftlichen Befriedigungen unserer Bedürfnisse (die aufgrund eines empfundenen Mangels in der Marktwirtschaft existieren) zumeist nur Ersatzbefriedigungen, die nicht wirklich sättigen, denn wir sollen ja immer weiter ackern und anderen Geld bringen.
Also heißt der zweite Aspekt: wann beginnen wir denn nun eigentlich endlich einmal zufriedenstellend zu leben? Das kann man ganz klar beantworten: Wenn es uns nicht gelingt, zumindest teilweise aus diesen Zusammenhängen auszusteigen. Für manche von uns gibt es zeitweilig solche Möglichkeiten, indem wir uns und andere ein wenig vom karrierebezogenen Denken und von solchen Strukturen freimachen. Für die meisten bedeutet das aber: nie!